Äpfel. Es gibt rote Äpfel, gelbe Äpfel und grüne Äpfel, süße und saure, große und kleine. Manche Äpfel sind rund, andere sehen aus wie Birnen. Äpfel sind saftig, die meisten schmecken gut und alle halten dir den Doktor vom Leib. Es gibt sie in der Bretagne, der Normandie, in Südtirol und im Rheinland. Und ein paar wachsen in Westfalen. Da wohne ich.
Meine Heimat ist die langweiligste, die spießigste und die flachste. Da wo ich wohne, da liegt der Hund begraben, hier will man nicht mal tot überm Zaun hängen. Nightlife, Party und Kultur sind hier nichts weiter als ein Hirngespinst oder eine Erinnerung an spannendere Zeiten. Dir ist schnell langweilig? Dann bleib fern!

Als ich im Dezember vergangenen Jahres also davon hörte, dass die Brauerei Kemker,- die ich immer und immer wieder bei Influencern in meiner Weinbubble sehe, - in Westfalen, beziehungsweise in Everswinkel liegen soll, war ich erst malfassungslos. Moderne, handwerkliche und nachhaltige Produkte und Ideen können nicht innerhalb eines Radius von 50 Kilometern von mir zuhause aus existieren. Das ist einfach unmöglich. Nein, auf keinen Fall, niemals. Und trotzdem: Everswinkel ist nur 30 Kilometer entfernt.
Meine Entscheidung ist gefallen: Ich fahre hin. Am 18. Januar, bei eisiger Kälte an einem lausigen Wintertag, bei gefühlten 47°C unter Null, aber ohne Schnee, besuche ich das erste Mal Jan und Nicole Kemker. Bis dato habe ich von Sauerbier, Cider oder Pflaumen-Pet-Nats noch genau so viel Ahnung wie ein KFZ-Mechaniker von Atomkraftwerken. Ich kenne Wein, aber was geht beim Bier? Pils schmeckt mir jedenfalls nicht, und Wein trinke ich doch eh viel lieber.


Die Brauerei gründete Jan Kemker 2017, erst machte er nur Bier, aber mittlerweile macht er zusammen mit Nicole alles, was man sich ausdenken kann. Das wichtigste und technisch ausgereifteste ist mit Sicherheit das Sauerbier der beiden, doch sie machen auch die oben genannten fruchtigen Pet-Nats, zum Beispiel aus Sauerkirschen, Pflaumen und Quitten. Dazu kommt Cider aus lokalen Apfelsorten und das gelegentliche Experiment, was man nur vor Ort kaufen kann.
Das Sauerbier ist oft co-fermentiert beziehungsweise mazeriert mit verschiedenen Früchten und Gewürzen, ‚reines Bier‘ ist hier die Ausnahme. Es gibt Sauerbier mit Mirabelle, Holunderblüte und Rhabarber, aber auch mit Weißburgunder-Trauben vom Weingut Piri Naturel von der Nahe oder mit Riesling von Julien Renard. Die Rezepte sind uralt, die Methoden unkonventionell; es wird nur mit wilden Hefen vergoren – Reinzucht hat dieser Ort noch nicht gesehen – dann wird das Bier in alten Barriques oder Portweinfässern gelagert, oft für bis zu zwei Jahre, bevor es unfiltriert abgefüllt wird. Wer sich jetzt denkt, dass man dafür richtig latzen muss, der liegt falsch; es geht bei 10 Euro los und endet bei 24 Euro (0,75 l).
Letztes Jahr hätte ich jeden als komplett bekloppt abgestempelt, wenn er mir erzählt hätte, dass so ein Ort, so eine Brauerei und solche Leute bei mir in der Gegend existieren. Seid ihr denn bescheuert? Wieso macht ihr das hier, und nicht in irgendeiner coolen Region? Oder unterschätze ich meine eigene Heimat? Renne ich blind an Tradition und Kultur vorbei?

Das meiner Meinung nach beste Sauerbier von Jan und Nicole ist übrigens das „Aoltbeer – Weißburgunder 08-2022“, mit den Trauben von Piri Naturel. In der Nase zeigt sich das Bier mit einer knackigen Reduktion, Hopfen und Malzigkeit, dazu ein wenig Frucht vom Weißburgunder: Zitrus und Pfirsiche. Im Geschmack kommt das Bier mit meterhoher Säure und einer wunderbaren Cremigkeit. Blind hätte ich weder auf Bier noch auf Wein getippt, das hier ist anders. Großartig.
Bevor ich Jan besuchte, sagte er am Telefon etwas von Arbeit, ich könnte ja helfen, wenn ich Lust hätte. Er müsse noch einen Zaun bauen und neue Bäume pflanzen, wann wisse er aber noch nicht. Na gut, ich biete mich an. Darüber kann ich etwas schreiben, und vielleicht so etwas Geld verdienen.
Und nur zwei Monate später – am Donnerstag nach der ProWein – stehe ich mit Jan auf einem einsamen Feld irgendwo im Nirgendwo bei Telgte, oder Everswinkel, oder… bei Münster halt. An Tag eins sind wir zu viert, vielleicht zu fünft, so recht weiß ich es auch nicht mehr. Anwesend sind auf jeden Fall: der Big Boss Jan, dem Big Boss seine Mutter, und ich. Der Empfang ist herzlich und nicht viel weniger als over the top; es gibt ein Frühstücksbuffet, gar ein Bankett, so gut kuratiert wie sonst nur meine Star Wars Sammelkarten. Es gibt belegte Brötchen, Kuchen, Kekse, Bananen, Kaffee, Milch, Bier, alkoholfreies Bier, Cola von beliebigen Marken und Wasser.
Das Wetter ist gut, 16°C, es ist sonnig und es weht eine leichte Brise. Perfekte Bedingungen, um Apfelbäume zu pflanzen. Oder viel eher, um Löcher zu bohren, damit wir in zwei Tagen Apfelbäume pflanzen können. Aber der Reihe nach:
Aufgeteilt ist die Arbeit in, grobgeschätzt, drei Schritte:
1. Einmessen und markieren
2. Löcher bohren und Pfähle einrammen
3. Bäume pflanzen
Alles easypeasylemonsqueazy, kein Ding, Pustekuchen, ein Zuckerschlecken, Arbeit zum mit Links machen. Zum Einmessen wurde eine Schnur genutzt, sie wurde auf Spannung gebracht und auf den gegenüberliegenden Ackerseiten möglichst nah an die Holzpinne geführt, ohne diese zu berühren. Warte mal, geht das nicht ein bisschen zu schnell? Eigentlich schon, aber den allerersten Schritt, also das Markieren der Reihenanfänge, habe ich selbst nur durch Hörensagen erfahren können. Mit Holzpinne meine ich übrigens Holzpfähle, die ungefähr zwei Meter hoch sind und jeweils den Anfang und das Ende der Reihen markieren. Reihenabstand: 7,85 Meter.

Die Schnur ist gespannt, und jetzt wird markiert. In einem Abstand von zwei Metern und 50 Zentimetern werden kleine Bambusstäbchen in den Boden gesteckt, genau an den Stellen, wo Jan später auf seinem großen grünen Traktor die sagenumwobenen Löcher bohren darf. Wie misst man den Abstand? Maßbänder sind was für Loser und uninspirierte Stadtmenschen. Nein, wir haben traditionell ein Brett benutzt, welches an ein anderes Brett geschraubt war. Ich muss selbst auch ein uninspirierter Stadtmensch sein, denn da wäre ich nicht drauf gekommen. Aber warum kompliziert machen, wenn es auch einfach geht?

Next Step: Löcher bohren. Was gibt es schon groß zu erzählen? Noch sind wir an Tag eins von drei. Das Bohren war leicht: einer fährt den Traktor (Jan) und einer misst, wie tief das Loch ist. Wenn es nicht passt, wird weiter gebohrt. Zwischen 20 und 30 Zentimeter sollten sie tief sein. Wenn es dann doch zu viel ist, dann interessiert das auch nur die Regenwürmer, deren Wohnung wir umgeräumt haben, denn die überschüssige Erde geht einfach zurück in das Loch. An manchen Stellen habe ich mich allerdings gefragt, ob wir gerade irgendeine alte Römerstätte zerstören, da waren nämlich Keramikstücke, Backsteine und teilweise sogar Fliesen. Sogar eine Art Fischernetz haben wir gefunden.
Der eigentlich anstrengende Teil kommt nach dem Löcher bohren: Pfähle in den Boden rammen.Ja, rammen. Das Gerät, was man dafür benutzt, nennt man nämlich ‚Pfahlramme‘. Eine Pfahlramme ist ein hohler Zylinder aus Metall mit zwei Griffen, je rechts und links. Unten ist der Zylinder offen, oben geschlossen. Man steckt oder stellt die Pfähle lose in das Loch und stülpt dann besagtes Werkzeug über den Pfahl, Stock, Pinn, wie auch immer, und lässt ihn fallen. Kontrolliert natürlich. Vor zwei Jahren wurde diese Arbeit dem Winzer Julien Renard zu Teil. Ich kann also wieder mal verbuchen, in die Fußstapfen großer Leute zu treten.
Diese Arbeit dauerte knapp zwei Tage. Vielleicht waren es auch nur anderthalb. Am dritten Tag wurde dann gepflanzt, also:
Next Step: Einpflanzen. Ich mache mich ein drittes Mal auf den Weg zur einsamsten Wiese Westfalens, und ich habe mal wieder keine Ahnung, was heute wirklich gemacht wird. Ich weiß, dass eingepflanzt wird, dass die Vorarbeit erledigt ist und die Löcher alle gebohrt und mit Holzlatten-Pinn-Pfahl-Dingsbums bestückt sind, aber habe keine Ahnung wie man die Bäume jetzt pflanzt. Meine Erwartung? Die Bäume aus ihren Plastikpötten nehmen, ins Loch stellen, vielleicht noch Erde drauf und fertig. Das wars. Ende im Gelände, Baum gepflanzt, Wiese fertig. Zumindest in meiner Vorstellung.
Zu meiner Überraschung ist es dann doch ein wenig komplexer als bis zehn zu zählen, aber Raketenwissenschaft ist es auch nicht. Schade eigentlich, Raketenwissenschaft und Pflanzenkunde in einem Arbeitsgang wären auch ziemlich nice. Es geht so: Die Bäume sind alle veredelt, das heißt es wurde eine bestimmte Apfelsorte auf eine krankheitsresistente Wurzel gepfropft. Die meisten werden es vom Wein kennen. Die Veredlungsstelle muss beim Pflanzen immer mindestens 20 Zentimeter über dem Boden liegen, sonst kann es zu Krankheiten kommen. Also nimmt man den Baum vorsichtig aus dem Plastikblumentopf, reißt, zupft und malträtiert ein paar mal die Wurzeln, damit diese locker werden, und stellt ihn einfach mal in das Loch. Passt? Perfekt. Passt nicht? Dann Loch auffüllen. Danach stopft man die Lücken und Lufträume wieder mit der Erde, die wir am Vortag noch aus den Löchern gebohrt haben. Stücke mit Gras kommen nach unten, alles andere darüber, dazwischen, daneben, davor und mitten rein. Last but not least muss man die Pflanzstellen noch verdichten, aka man tritt ein paar Mal mit der Ferse auf die frisch aufgeschüttete Erde, bis diese fest ist. Tadaa! Baum gepflanzt.
"44 Apfelsorten stehen auf die Wiese. Warum? Weil ein Cider, der aus nur einer Apfelsorte gemacht wurde, scheiße schmeckt!"
In den Momenten, in denen ich meine wertvolle Zeit nicht mit Fotos, Videos und Albernheiten verschwendete, habe ich mich immer wieder gefragt, warum manche Bäume größer sind als andere, warum manche schon blühen und warum manche eine andere Farbe zu haben scheinen. Die Antwort liegt eigentlich auf der Hand: Gemischter Satz. Wir pflanzen einen apfeligen Gemischten Satz. Gefühlte 40 – und laut Pflanzplan sogar 44 – Apfelsorten ziehen auf die Wiese. Warum? Weil ein Cider, der aus nur einer Apfelsorte gemacht wurde, scheiße schmeckt! Weintrauben haben Talent, denn sie haben Süße, Geschmack, Tannine und Farbe, und davon sogar reichlich. Ein Apfel ist dagegen alles andere als talentiert und macht obendrein nur das Nötigste, um bezahlt zu werden. Entweder schmeckt er, er ist süß, er hat Farbe oder er hat Gerbstoff. Manche haben sogar zwei solcher Eigenschaften, aber die allermeisten Sorten sind wohl oder übel nur zum Essen geeignet, und selbst das ist debattierbar.

Zu guter Letzt sperren wir die Bäumchen ein. Oder viel eher sperren wir die Tierwelt aus. Aus Maschendraht werden kleine Zylinder gebastelt, die dann um die Baumstämme gestellt und befestigt werden. Dann binden wir die Bäume noch an den Holzpfahl und we are good to go. Das ist easy, ein bisschen langweilig vielleicht, aber verdammt entspannend, nachdem man sich beim Graben, Wühlen und Einpflanzen die Hände schmutzig gemacht hat. Warum macht man das? Genau genommen ist der Draht dafür gedacht, dass Kaninchen oder Hasen nicht die Wurzeln und den Stamm anknabbern, der schmeckt nämlich besonders gut. Laut Nicole ist das aber ein eher unwesentliches Problem, so viele Hasen gibt es im Münsterland nämlich gar nicht. Rehe sind viel schlimmer. Oder viel eher Rehkitze, die sind nämlich süchtig nach frischen Knospen, denn die müssen für ein Minireh anscheinend so gut schmecken wie in Puderzucker getauchte Nutellakekse. Und dann? Dann ist alles getan.
Der Tag geht zu Ende, mittlerweile ist es sicher 17 Uhr. Eine leichte Brise setzt ein, der Himmel verfärbt sich in eine Fan Fiction von Fifty Shades of Grey, es nieselt.

Jetzt viel Spaß beim Warten. Jans Antwort auf die Frage: „Wann gibt es die ersten Äpfel von dieser Wiese?“, lautete nämlich: „In zehn Jahren vielleicht?“.
Zehn Jahre Geduld für ein paar Äpfel. Aber vielleicht sind es auch nur fünf. Das Endprodukt habe ich gerade im Glas: „Apfel-Quitte-Aronia Pet-Nat“, geerntet 2021 und 2022. Das ist zwar nur ein halber Apfelwein, aber er hat es in sich. Die Nase ist reduktiv, ein bisschen schwefelig, aber auch fruchtig, frisch und intensiv. Die Säure ist hoch, juicy, animierend, süchtig machend. Schmeckt nach Apfel und Limetten, dazu Orangenschale und ein bisschen obligatorischen „Funk“. Alles passt zur pissgelben Farbe, aber es ist so viel besser als frischer Morgenurin. Sechs Volumenprozent, Null Gramm Zucker, 100 % Halligalli.
Das war Flasche eins von zwölf, meine Bezahlung. Geld gab es keins, aber für das bisschen Arbeit gab man mir drei Kisten Bier und Cider. Umgerechnet ist das ein Stundenlohn von… lass mich rechnen… deutlich mehr als Mindestlohn! Meinen allergrößten Dank an Jan und Nicole für die Möglichkeit dieser Wiesenbepflanzung und für die maßlose Übertreibung meiner Bezahlung. Gerne wieder!